Porträt – GEO Dezember 2003
Die britische Psychologin Susan Blackmore verficht eine raffinierte, umstrittene Theorie: So wie Gene den Körper des Menschen modellieren, werden unser Geist und die Kultur durch »Meme« geformt – durch all jene Ideen und Informationen, die sich in Tönen, Büchern oder Alltagsgegenständen materialisieren
Das Reihenhaus im englischen Bristol, in dem Susan Blackmore mit ihrem Lebensgefährten wohnt, hat den Charme einer etwas aus den Fugen geratenen Studentenbude. Der Dielenboden knarrt, die Türklinken sind nur locker eingepasst, es riecht nach Büchern. Die Hausherrin mit den pinkfarbenen Strähnen im Haar trinkt Tee und fühlt sich sichtlich wohl inmitten der überquellenden Regale. Viele der Werke zeugen von Susan Blackmores früheren Forschungsgegenständen: dem Psi-Phänomen und den Nahtod-Erfahrungen. Für eine Arbeit, die schließlich mit dem Übersinnlichen brach, erhielt sie 1980 einen Doktortitel im Fach Parapsychologie.
GEO: Frau Blackmore, sind Sie tatsächlich vor einigen Jahren nach Wuppertal gefahren und haben dort eine Glühbirne aufgegessen?
Susan Blackmore: Darauf werde ich oft angesprochen. Es scheint mir gelungen zu sein, ein machtvolles Mem in die Welt zu setzen. Damals untersuchte ich paranormale Vorgänge. In Wuppertal fand eine Skeptiker-Konferenz statt, auf der ein indischer „Entzauberer“ auftrat, der beweisen wollte, dass man eine Glühbirne verspeisen kann. Ich sollte sie prüfen. Sie war zweifellos echt. Er zerschlug die Birne mit einem Hammer und aß sie. Ich sagte: Was Sie können, kann ich auch. Er stutz-te, aber dann gab er mir eine Birne und sagte: Sie müssen das Glas gut zerkauen und dann mit viel Spucke runterschlucken. Das tat ich. Als ich abends im Bett lag, dachte ich, ich würde an inneren Blutungen sterben. Aber am nächsten Morgen ging es mir prima.
Eine sehr drastische Art, einen unglaublich erscheinenden Vorgang zu prüfen. Seither haben Sie sich mit Dingen befasst, die nicht so handfest und materiell wie Glas sind.
Falsch. Meme sind hundertprozentig materiell. Sprechen Sie mir bitte nach: „Guten Tag“.
Guten Tag.
Sehen Sie, das sind Worte, Töne, Vibrationen – materielle Dinge. Viele Menschen glauben, dass Meme nur eine vage Idee sind. Aber sie sind viel mehr. Richard Dawkins hat den Begriff „Mem“ schon 1976 in seinem Buch „Das egoistische Gen“ erwähnt – als treibende Kraft der kulturellen Evolution.
Was genau ist ein Mem?
Der Begriff leitet sich ab von dem altgriechischen Wort „mimeme“ für „das Nachgeahmte“. Was auch immer nachgeahmt oder imitiert wird, ist ein Mem. Man könnte sagen: Meme sind materialisierte Ideen, Informationen. Aber deutlicher als diese Begriffe zielt das Mem-Konzept auf den Akt der Weitergabe. Alles das ist ein Mem, was übertragen werden kann: von einer Person auf andere Personen, von einer Person in ein Buch, von einem Buch in den Computer – aber eben auch in die Welt der Alltagsgegenstände, der Moden und Gebräuche. Dass wir in England Linksverkehr haben und Sie in Deutschland Rechtsverkehr, die Vorliebe für Currywurst, die Kleidermode – alles Meme.
Die Ähnlichkeit mit dem Wort „Gen“ ist sicherlich kein Zufall.
In der Tat. Denn auch Meme unterliegen der Evolution. Gene wie Meme sind „Replikatoren“ – Einheiten der Weitergabe, die drei Bedingungen erfüllen müssen: Sie müssen kopiert werden können; sie müssen sich verändern können, und sie müssen der Selektion unterliegen, sodass nicht alle Varianten überleben. Wie es bei den Genen eine Spanne von sehr einfach gebauten Erb-Einheiten bis hin zu miteinander verbundenen Genen gibt, liegt der Fall auch bei den Memen: Sie können so simpel sein wie Omas Kochrezept für Pfannkuchen. Sie können sich aber auch zu Clustern zusammenballen. Ich spreche dann von Memplexen. Religionen und wissenschaftliche Theorien zählen etwa dazu.
Also ist letztlich alles ein Mem?
Nein. Dann wäre die Mem-Theorie nutzlos. Ein Baum oder ein Stein ist kein Mem; diese Dinge sind einfach da. Bevor Menschen auf der Erde lebten und das Imitieren lernten, gab es kein einziges Mem. Ein Gedanke, den Sie für sich behalten, ist ebenfalls kein Mem, denn er kann sich nicht verbreiten.
Wozu brauchen wir denn die Mem-Theorie? Inwiefern schärft sie das Bild vom Menschen?
Die Konkurrenz der Meme hat unseren Geist und unsere Kultur geformt – so wie die natürliche Selektion der Gene unseren Körper modelliert hat. Ich glaube, dass meine Theorie das Wechselspiel dieser Prozesse schlüssig erklärt. Meme verändern die Umwelt, in der Gene selektiert werden. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich all diese Häuser, Straßen und Autos. Wie das Unkraut in meinem Garten wuchert, so haben sich Städte geradezu wesenhaft über das Land verbreitet. Wir haben heute Kommunikationswege, die wie Nervenbahnen sind, ein gewaltiges interkontinentales Mem-System. Billionen Meme werden Minute für Minute kopiert, mit raffinierten Geräten wie Mobiltelefonen, DVD-Spielern und Computern. Die Informationsgesellschaft ist genau das, was als Ergebnis einer memetischen Evolution zu erwarten war. Wir sind die einzigen Kreaturen auf dem Planeten, die von zwei Kopiermechanismen geschaffen worden sind, zwei evolutionären Prozessen, die ineinander greifen.
Haben Sie Belege für eine Ko-Evolution von Genen und Memen?
Um die Kopiermaschine Mensch leistungsfähiger zu machen, müssen Meme Gene zwingen, immer bessere memverbreitende Maschinen zu konstruieren. In unserer Naturgeschichte war das Gehirn gezwungen, viel schneller und unter Inkaufnahme viel höherer Kosten zu wachsen, als aufgrund des biologischen Vorteils allein zu erwarten wäre – denken Sie nur an den hohen Energieverbrauch des Hirns oder das Geburtsrisiko aufgrund des großen Kopfes menschlicher Babys. Es ging eindeutig auch um den Vorteil der Meme. Darum habe ich prognostiziert, dass jene Hirnregionen des Menschen, die größer sind als etwa bei Schimpansen, für das Imitieren zuständig sein sollten. Genau das hat sich jüngst
herausgestellt.
Ein anderes Beispiel für Ko-Evolution ist die Partnerwahl: Bevor Meme in die Welt kamen, haben unsere Vorfahren ihre Partner danach ausgewählt, ob sie über Macht und Fortpflanzungsfähigkeit verfügten. Das gilt auch heute noch, aber gerade gut ausgebildete Männer und Frauen wählen ihre Partner auch aus memetischen Gründen. Gute Mem-Imitatoren und -Verbreiter – vom Künstler bis zum Karriere-
Politiker – wirken einfach anziehend. Das Äußere dieser Menschen zeigt dabei mitunter nicht einmal „gute Gene“ an. Gene und Meme arbeiten also durchaus auch gegeneinander.
Läuft da nicht etwas verkehrt?
Gegenfrage: für wen verkehrt? Der Zölibat ist vom genetischen Standpunkt aus gesehen in der Tat sinnlos. Er unterdrückt die Verbreitung von Genen. Aus memetischer Sicht ist er hingegen höchst sinnvoll, denn katholische Priester können sich mit ganzer Kraft der Verbreitung des Glaubens widmen. Oder nehmen Sie die Geburtenkontrolle. Sie gibt Frauen mehr Möglichkeiten, sich weiterzubilden, mehr Meme aufzunehmen und zu verbreiten, inklusive derer für Geburtenkontrolle. Das wirkt ganz eindeutig der Verbreitung von Genen entge-gen. Viele Menschen sind heute stärker im Griff der Meme als im Griff der Gene: der Wissenschaftler, der all die neuen Arbeiten lesen will; der Werbemanager, der Hunderte Ideen sichten muss; der Computerbesessene, der sich eine noch größere Festplatte einbaut.
Welches war das erste Mem in der Menschheitsgeschichte?
Schwer zu sagen. Ich vermute, dass die ersten Meme vor zweieinhalb Millionen Jahren auftauchten. Es muss so lange her sein, denn Steinwerkzeuge sind Meme. Sie herzustellen, kann man nicht für sich allein lernen. Hier spielt Imitation eine entscheidende Rolle. Solange sie vorwiegend gestisch-mimisch geschieht, bleibt die Zahl der Meme beschränkt. Erst die Entwicklung der Sprache vor rund 30000 Jahren hat die Verbreitung der Meme revolutioniert.
Alle heutigen Meme sind demnach Varianten der Ur-Meme?
In der gleichen Weise, wie unsere Körper die Resultate von Varianten der ersten Partikel Erbsubstanz sind, die vor Jahrmilliarden in einer Art Ursuppe entstanden sind.
Katastrophen wie der Meteoriteneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der die Dinosaurier ausgelöscht hat, oder der Terror vom 11. September haben doch etwas ganz Neues hervorgebracht.
Der Meteorit hatte dramatische Auswirkungen auf die Gene. Die Dinosaurier konnten sich nicht weiterverbreiten. Stattdessen haben sich die Säugetiere durchgesetzt; deren Gene waren schon länger vorhanden, nur waren sie nicht erfolgreich. Ganz ähnlich nach dem 11. September: Das „In-den-USA-bin-ich-sicher“-Mem hat einen schweren Rückschlag erlitten, während das im Prinzip ja längst vorhandene „Angst-vor-Terroristen“-Mem sich erfolgreich verbreitet hat.
Haben Meme eigene Interessen? Lenken sie Prozesse in eine bestimmte Richtung?
Meme haben weder bewusste Absichten noch streben sie danach, etwas zu tun. Wenn ich sage, dass eine Melodie versucht, sich weltweit auszubreiten, dann meine ich damit nicht mehr, als: Meme, die sich gut kopieren lassen, verbreiten sich – andernfalls werden sie verdrängt oder sterben aus. In diesem Sinne kann man davon reden, dass Meme kopiert werden „wollen“, egal welche Konsequenzen das für sie und mich, für unsere Gene oder den Planeten hat. Ein Computer-Virus kann ein ebenso erfolgreiches Mem sein wie eine wertvolle wissenschaftliche Erkenntnis. Ein Lied wie „Jingle Bells“ breitet sich möglicherweise deshalb aus, weil es gut klingt – aber es ist nicht besonders nützlich und kann einem definitiv auf die Nerven gehen. Genau solche Phänomene untersucht die Mem-Theorie: Warum schwirren uns bestimmte Melodien im Kopf herum? Warum können wir nicht aufhören zu denken? Warum reden wir so viel?
Dennoch halten viele Wissenschaftler die Mem-Theorie für nicht viel mehr als intelligente Spinnerei. Akzeptieren wollen sie sie erst, wenn ein biochemischer Träger für Meme im Gehirn gefunden worden ist – so wie die DNS in den Körperzellen der Träger für die Gene ist.
Zu Darwins Theorie haben auch viele Zeitgenossen gesagt: Irgendwie hat er zwar Recht, aber wie soll man die physische Basis der Vererbung finden? Dass es eines Tages möglich sein wird, in einem derart veränderbaren System wie dem Gehirn die Träger einzelner Meme zu lokalisieren, halte allerdings auch ich für unwahrscheinlich.
Gemeinhin gilt eine Theorie nur dann als sinnvoll, wenn sie zumindest theoretisch widerlegt werden kann. Für die Mem-Theorie scheint das kaum denkbar.
Es ist durchaus möglich, wenn auch in einer eher trivialen Art. Wenn zum Beispiel die Noten-folge von Beethovens fünfter Symphonie in einem versiegelten ägyptischen Grab entdeckt würde, wäre die Mem-Theorie eindeutig widerlegt. Denn je-des Mem benötigt eine eindeutige Abstammungslinie, die keine jahrhundertelangen Lücken aufweisen darf.
Meme können nicht aus dem Nichts auftauchen – aber können sie endgültig verschwinden?
Ja, denken Sie zum Beispiel an die Bibliothek des antiken Alexandria. In ihr lagerten Schriftrollen, von denen es heute keine Kopien mehr gibt: Das sind Meme, die unwiderruflich verschwunden sind. Viel häufiger geht es allerdings nur darum, ob bestimmte Meme zugunsten anderer in den Hintergrund gedrängt werden. Zum Beispiel geht es in der aktuellen ökologischen Debatte darum, welches Mem stärker sein wird – das des Kyoto-Protokolls oder das der Ausbeutung der Natur um jeden Preis.
Wer steuert den Prozess der soziokulturellen Entwicklung: Ist es der Mensch oder sind es die von ihm geschaffenen Meme?
Menschen sind „Mem-Maschinen“, wie es im Titel der englischen Ausgabe meines Buches heißt: Maschinen, die Informationen kopieren und rekombinieren. Meme liefern den Antrieb, der hinter allem steht, was wir tun. Der Tyrannei der Meme zu entfliehen, ist kaum möglich.
Das klingt, als hätten Sie es selbst einmal versucht.
Oh ja, immer wieder. Erst kürzlich war ich auf einer abgelegenen Farm in Wales. Kein Strom, kein Gas, kein Telefon; ich meditierte tagelang. Im Zen-Buddhismus gibt es so etwas wie Mem-fressende Meme, und ich bemerkte tatsächlich, wie einige Meme aus meinem Kopf verschwanden. Ich entdeckte auch, dass ich die Initiative verlor, dass die Dinge nur noch geschahen. Wenn Meme gehen, wenn man die Gedanken fließen lässt, schweigt, in der Natur ist, dann löst sich das Ich auf. Das ist mein Weg, inmitten einer Mem-überladenen Welt zu leben, die uns vorgaukelt, dass wir wichtig sind – eigenständige Ichs, die ihr Leben kontrollieren, die ein Bewusstsein und einen freien Willen haben. Das alles halte ich für eine gewaltige Illusion.
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